Huren, Transvestiten, Schauspieler: Die Milieu- und Theaterfotografin Roswitha Hecke ist immer nah dran. Zurzeit wird die 62-Jährige in Berlin mit einer Retrospektive gewürdigt. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE spricht sie über Voyeurismus und den Zauber intimer Momente.
Andrea Tholl: Ihre aktuelle Ausstellung heißt „Secret Views“. Wessen geheime Blicke sind gemeint?
Roswitha Hecke: Auf den Fotos fange ich den privaten Blick meines Gegenübers ein. Aber auch ich schaue besonders, wenn ich auf den Auslöser drücke. Fotografieren ist wie eine Beziehung. Ich berühre und werde berührt.
Der Titel suggeriert, dass Sie wie durch ein Schlüsselloch spähen, um Intimes ans Tageslicht zu holen.
Der Vergleich gefällt mir nicht, denn so klingt es nach Voyeurismus. Das wäre würdelos und beinhaltete eine Beurteilung. Aber bei meiner Arbeit bewerte ich nicht. Mir geht es vor allem um Respekt. Wenn ich jemanden fotografiere, dann mit Herz.
Sie spielen schon mit Tabubrüchen und Provokation. Ende der siebziger Jahre haben Sie der Schweizer Straßenhure Irene ein Buch gewidmet.
Irene liebte es, auf der Straße Männer anzusprechen. Sie ist eine ganz starke Frau und absolut kein Opfer. Wir verstanden uns auf Anhieb. Sie liebte die Straße zum Anschaffen, ich zum Fotografieren.
Wie kam dieser besondere Kontakt zustande?
Ich wohnte zwei Jahre lang in Paris und habe am Pigalle Transvestiten fotografiert. Danach hatte ich einfach Lust auf ein richtiges Weib. Irene kannte ich über den Regisseur Werner Schroeter. Ich habe diese wunderschöne Frau vier Wochen lang begleitet.
Außerdem fotografierten Sie Obdachlose in der New Yorker Bowery, begleiteten einen Ermittler aus dem Morddezernat bei seinen Einsätzen in der Bronx oder lichteten Tänzerinnen in einem mexikanischen Nachtclub ab. Wie kommt es, dass die Menschen, gerade aus dem Rotlichtmilieu, Sie so nah an sich heranlassen?
Ich bin für sie kein Fremdkörper. Ich begleite meine Modelle eine gewisse Zeit und fotografiere erst dann, wenn wir Vertrauen zueinander haben. Ich würde es nie übers Herz bringen, nur einen Tag für ein tolles Foto dort zu sein und dann wieder zu gehen. Außerdem öffnen sich die Menschen mir gegenüber, weil sie meine eigene Verletzlichkeit spüren. Ich bringe diesen sensiblen Wesen die größtmögliche Sensibilität entgegen.
Und das auf der ganzen Welt – Sie lebten in Paris, New York, Tanger, Barcelona, Südamerika, um nur ein paar Stationen zu nennen. Was suchen Sie?
Ich suche nicht, ich finde. Genetisch bin ich eine Nomadin. Ich bin aus Neugierde unterwegs – und aus Selbsterfahrung. In der Fremde wird man häufig mit unvorhergesehenen Situationen konfrontiert. Wie ich darauf reagiere, finde ich sehr spannend. Deutschland deprimiert mich einfach oft.
Warum?
Ich vermisse hier die Fröhlichkeit. Ich lebe zwar auch in Hamburg, fühle mich aber wohler in Ländern, in denen man anders denkt. Sobald ich die Landesgrenze überschreite, blühe ich auf. Trotzdem hänge ich natürlich sehr an meinen Freunden.
Sie als bekannte Fotografin sind natürlich in der privilegierten Situation, die Welt von Berufs wegen erkunden zu dürfen.
Natürlich. Aber gehen kann jeder. Viele haben nur einfach nicht das Bedürfnis. Ich bin Fotografin geworden, weil ich in unbekannte Welten eintauchen wollte. Eine andere Tätigkeit wäre für mich nicht in Frage gekommen.
Hatten Sie Vorbilder für Ihre Berufswahl?
Nein. Eines Morgens wachte ich auf und sagte zu meiner Mutter: Ich will Fotografin werden. Vorher hatte ich noch nie eine Kamera in der Hand. Ich wollte unbedingt das Handwerk in der Dunkelkammer erlernen und habe deshalb eine Fotolehre begonnen.
Nach der Ausbildung sind Sie einen eher unüblichen Weg gegangen.
Ich habe Theaterinszenierungen bei Peter Zadek fotografiert, mit dem ich sieben Jahre liiert war. Es war so eine Art Reisegeschichte, denn wir sind viel unterwegs gewesen.
Im letzten Jahr widmeten Sie ihm anlässlich seines 80. Geburtstags eine Ausstellung mit dem Titel „Oh, mein Zadek“. Eine Hommage an Ihre große Liebe?
Sagen wir es mal so: Mit Peter Zadek hatte ich die längste Beziehung meines Lebens. Ihm habe ich meine wertvolle Freundschaft zur Schauspielerfamilie Bennent zu verdanken, die ich Mitte der sechziger Jahre kennenlernte.
Und die Sie seitdem mit Ihrer Kamera begleiten. Eines Ihrer berühmtesten Bilder zeigt den zweijährigen David Bennent, wie er in einem gehäkelten Sommerlatzhöschen mit aufgerissenen Augen in die Kamera schaut.
Ja. Seine Mutter Diane hat das Höschen gehäkelt. Sie ist sehr unkonventionell und stark. Mit ihr verbindet mich eine sehr innige Freundschaft. Mich faszinieren die Bennents, die haben alle so irre Gesichter.
Sie haben noch zahlreiche andere Schauspieler und Künstler fotografiert, zum Beispiel Orhan Pamuk, Ben Becker, Rosa von Praunheim oder Christine Kaufmann. Viele von Ihnen in erotischen Posen. War es schwierig, die Menschen dazu zu bewegen, sich vor der Kamera auszuziehen?
Nein. Ich fotografiere sie ja nur, wenn sie es auch gut finden, sich auszuziehen. So etwas ergibt sich manchmal. Jeder, der keine Probleme mit sich selbst hat, sieht sich doch gern nackt auf einem Foto. Oft genug gibt es diesen Reiz, seinen Intimbereich nicht abzuschotten. Das gilt gleichermaßen für Frauen und Männer.
Inwieweit geben Sie Ihren Modellen Anweisungen, wie sie schauen oder sich bewegen sollen?
Im Grunde mache ich keine Vorgaben. Bei den Porträtfotos sage ich vielleicht, die Person soll sich vor einen bestimmten Gegenstand stellen. Sonst nichts. Was sie dann macht, überlasse ich ihr. Ich arbeite mit dem vorhandenen Licht und benutze meine gute alte analoge Kamera. Am liebsten nehme ich meine 6 x 6 Rolleiflex.
Das ist eher ungewöhnlich angesichts der aufwändigen Fotoinszenierungen, die heute weit verbreitet sind.
Stimmt. Hinter meiner Arbeit steckt keine Absicht, vielmehr geht es mir um Authentizität. Wenn ich meine Bilder stellen würde, könnte ich den besonderen Blick, der mir so wichtig ist, nicht mehr einfangen. Die Menschen würden automatisch anders gucken. Und dann hätte ich keine „Secret Views“ mehr.
Was planen Sie als Nächstes?
Es zieht mich wieder in die Ferne, unter anderem nach Georgien, wo meine Familie mütterlicherseits herkommt. Was genau ich dort mache – ich weiß es nicht, das lasse ich auf mich zukommen. Aber ich habe auf jeden Fall meine Kamera dabei. Mit der fühle ich mich nicht allein. Sie gibt mir gewissen Schutz und ist eine schöne Berechtigung, dort zu sein.
________________________________________________________________________________________________________________
ZUR PERSON
Roswitha Hecke wurde 1944 als Tochter deutsch-russischer Eltern in Hamburg geboren. Nach Abschluss ihrer Fotolehre 1963 fotografierte sie Theaterinszenierungen und an Filmsets. Sie arbeitete mit Regisseuren wie Rainer Werner Fassbinder, Werner Schroeter und Peter Zadek. International erfolgreich wurde Hecke 1978 mit dem Bildband „LiebesLeben“ über den Alltag der Schweizer Prostituierten Irene.